Neuroinklusion in der Arbeitswelt: Warum HR oft scheitert und wie Führungskräfte das Ruder herumreißen

Mindestens 20 % Ihrer Mitarbeiter:innen sind neurodivergent. Ihre Gehirne funktionieren anders. Und Standardprozesse sind nicht für sie gebaut.

Neuroinklusion ist kein soziales Randthema. Es ist ein knallhartes Design-Problem, das über die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen entscheidet.

Lassen Sie mich erklären warum.

Die versteckten Kosten: Die Rechnung, die Ihr Unternehmen bereits bezahlt

Die Zahlen für Deutschland und Österreich sind alarmierend. Laut dem DAK-Psychoreport 2023 erreichten die psychisch bedingten Arbeitsausfälle in Deutschland einen neuen Höchststand mit einer durchschnittlichen Dauer von besorgniserregenden 39,2 Tagen pro Fall. In Österreich zeigt der AOK-Fehlzeitenreport einen ähnlichen Trend, bei dem psychische Erkrankungen die mit Abstand längste Krankenstandsdauer verursachen. In Deutschland gehen rund 15 % aller Arbeitsausfälle auf psychische Belastungen zurück.

Doch es geht nicht nur um Abwesenheit. Die OECD schätzt die gesamtwirtschaftlichen Kosten, die durch psychische Gesundheitsprobleme entstehen – inklusive direkter Behandlungskosten und indirekter Kosten durch Produktivitätsverluste – in Ländern wie Deutschland und Österreich auf 3-4 % des Bruttoinlandsprodukts. Das sind jährlich hunderte Milliarden Euro.

Und das schadet uns allen.

Neuroinklusion bringt einen Return on Investment, Intelligence und Innovation (ROIII)

Der Wert von Neuroinklusion geht weit über soziale Verantwortung hinaus und lässt sich als dreifache Rendite quantifizieren: als Return on Investment, Return on Intelligence und Return on Innovation.

Neuroinklusion schafft einen dreifachen Return on Investment Itelligence und Innovation.

Finanziell ist der Fall klar: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat berechnet, dass jeder in die psychische Gesundheit investierte Euro eine Rendite von vier Euro durch verbesserte Gesundheit und Produktivität generiert.

1 € in mental health investiert wird zu einem Return von 4€ durch mehr Gesundheit und Innovation

Doch der wahre strategische Vorteil liegt in der Aktivierung ungenutzter Potenziale. Indem Unternehmen gezielt die sogenannten „Spiky Profiles“ fördern – also Profile mit außergewöhnlichen Stärken in spezifischen Bereichen wie Mustererkennung oder Hyperfokus –, erschließen sie eine neue Dimension der kollektiven Intelligenz.

Wie der Harvard Business Review hervorhebt, führt genau diese kognitive Vielfalt zu höherer Innovationskraft (+30%!), da neurodiverse Teams Probleme auf eine Weise lösen, die für homogene Gruppen unerreichbar bleibt. Das nennt sich auch spiky profiles.

Stellen Sie sich vor, man hätte alle Energie investiert, Albert Einstein zu einem guten Sales Manager zu machen, anstatt seine Begabung im Bereich der Naturwissenschaften zu stärken. (Albert Einstein war höchstwahrscheinlich stark autistisch. Deswegen hatte er sozial auch in seiner wissenschaftlichen Karriere viele Stolpersteine.)

Neurodivergente Menschen haben jedoch oft „Spiky Profiles“: außergewöhnliche Spitzen in bestimmten Bereichen, kombiniert mit sichtbaren Herausforderungen in anderen. Denken Sie an Mitarbeitenden mit ADHS, die in kreativen Sprints brillieren, oder autistische Personen (Autismus), die in der Datenanalyse Muster erkennen, die andere übersehen. Dafür sind Autist:innen in der Regel schlecht in der Kommunikation und Menschen mit ADHS in Routinetätigkeiten.

Das ist kein Defizit. Das ist ein Differenzierungsmerkmal.

Neuroinklusion ist somit kein Kostenfaktor, sondern eine direkte Investition in die finanzielle, intellektuelle und zukunftsfähige Performance des gesamten Unternehmens. Wenn Sie 20 % Ihrer Belegschaft systematisch daran hindern, ihr volles Potenzial zu entfalten, verlieren Sie nicht nur Menschen. Sie verlieren Performance.

Neuroinklusion ist keine Sonderbehandlung

Wenn man die Bedürfnisse neurodivergenter Mitarbeitenden ins Zentrum stellt, ist das keine Extrawurst, keine Sonderbehandlung. Es ist universal design. Ganz ähnlich wie bei Untertiteln. Einst für einige wenige entwickelt und eingeführt und heute von allen in der U-Bahn geliebt. So ist es auch mit Neuroinklusion.

Ich beschreibe neurodivergente Menschen gerne als Seismographen eines Unternehmens. Sie spüren als Erste, wo Strukturen unklar, Reize überfordernd und Kommunikationswege ineffizient sind.

Ein Beispiel aus meiner Praxis: Bei der Begehung eines Bürogebäudes mit ihren Großraumbüros fällt auf, dass in einem Bereich Antenne Steiermark rennt und im anderen Eck Kronehit. Kein Witz! Ein Alptraum für reizoffene Menschen. Wenn das Ausblenden von Reizen so viel Kapazität braucht, sinkt die Performance. Auch die Beleuchtung, schrilles Orange an den Wänden und kalte Beleuchtung wie aus der Pathologie. Das ermüdet nicht nur die Augen, sondern triggert auch die Amygdala.

Kurz – das macht krank. Und zwar auf lange Sicht alle.

„Spiky Profiles“: Der ungenutzte Performance-Hebel im Business

Ein weiteres Kernproblem ist die Annahme von Linearität. Man geht davon aus, dass Menschen in den meisten Bereichen homogen kompetent sind. Das ist bei neurodivergenten Menschen oft anders. Sie haben in manchen Bereichen klare Stärken, und in anderen Bereichen klare Schwächen.

Klassische HR-Systeme lieben den Durchschnitt und bewerten Konstanz – die merzen Schwächen aus, statt Stärken zu fördern. Das ist bei neurodivergenten Menschen hoch problematisch.

Stellen Sie sich vor, man hätte alle Energie investiert, Albert Einstein zu einem guten Sales Manager zu machen, anstatt seine Begabung im Bereich der Naturwissenschaften zu stärken. (Albert Einstein war höchstwahrscheinlich stark autistisch. Deswegen hatte er sozial auch in seiner wissenschaftlichen Karriere viele Stolpersteine.)

Das ist kein Defizit. Das ist ein Differenzierungsmerkmal.

Wenn Unternehmen versuchen, diese Spitzen abzuschleifen, um sie dem Durchschnitt anzupassen, kappen sie ihre größten Leistungshebel. Echte Innovation entsteht nicht aus Gleichmäßigkeit, sondern aus der intelligenten Nutzung von Unterschieden.

Die „Hirnzigartige“ Quick-Wins für HR und Führung

11 Hebel für Neuroinklusion

Hier sind 11 sofort umsetzbare Hebel:

1. Stellenausschreibungen entrümpeln:

Trennen Sie klar zwischen unverzichtbaren Muss-Anforderungen und optionalen Kann-Anforderungen. Reduzieren Sie Fachjargon und Unternehmensfloskeln auf ein Minimum. Klare, ehrliche Ausschreibungen ziehen die richtigen Talente an und schrecken niemanden unnötig ab. Eine Studie des britischen „Institute of Leadership & Management“ ergab, dass sich 76 % der neurodivergenten Jobsuchenden durch traditionelle Rekrutierungsmethoden und unklare Ausschreibungen benachteiligt fühlen.

2. Neuroinklusives Onboarding gestalten:

Strecken Sie den Onboarding-Prozess über mehrere Wochen, statt alle Informationen in zwei Tagen zu vermitteln. Stellen Sie alle wichtigen Unterlagen und Anleitungen vor dem ersten Arbeitstag schriftlich zur Verfügung. Benennen Sie einen festen „Buddy“ oder Ansprechpartner:in für alle organisatorischen Fragen, um die soziale und kognitive Last zu reduzieren. Jede Frage sollte erlaubt sein – egal wie „blöd“ sie vielleicht ist. Dies gilt auch für Bereiche wie Kleidungsrichlinien, wie wichtig Pünktlichkeit ist, wann man wen ins CC nimmt, etc. Es geht um Sicherheit bei impliziten Unternehmensregeln.

3. Meetings klar deklarieren:

Führen Sie eindeutige Labels für Meetings ein (z. B. „Info-Meeting“, „Brainstorming“, „Entscheidungs-Meeting“). Geben Sie in der Einladung immer ein klares Ziel und, wenn möglich, eine detaillierte Agenda an. Dies schafft Vorhersehbarkeit und erlaubt es den Teilnehmenden, ihre Energie gezielt einzusetzen. Das nützt allen!

4. Kommunikation präzisieren – und am besten schriftlich:

Verbannen Sie das vage „Wir“ und unklare Bitten aus Ihrer Kommunikation. Formulieren Sie Erwartungen immer nach dem Prinzip: Wer macht was bis wann und warum? Präzision ist kein Misstrauen, sondern die Grundlage für Effizienz und psychologische Sicherheit. Menschen gerade mit Autismus nehmen Dinge wörtlich. Könntest du bitte XY tun, wenn du Zeit hast, ist keine klare Anweisung.

5. Asynchrone Kommunikation etablieren:

Schaffen Sie die Erwartung, dass nicht jede E-Mail oder Chat-Nachricht sofort beantwortet werden muss. Fördern Sie die Nutzung von klaren Betreffzeilen und fassen Sie Gedanken in einer einzigen, gut strukturierten Nachricht zusammen, anstatt viele kleine Nachrichten zu senden. Das reduziert Unterbrechungen und schont die kognitiven Ressourcen aller.

6. Führen Sie Kommunikations-Richtlinien ein:

Wann verwenden wir welches Kommunikationsmittel? Beispiel: wirklich dringend: Anruf. Antwort innerhalb von 1-2 Stunden erwartet: SMS. Antwort innerhalb des Tages: Teams/Slack Nachricht. Innerhalb der Woche: eMail. eMail als CC: nur zur Info.

7. Eine „Single Source of Truth“ schaffen:

Richten Sie eine zentrale, gut durchsuchbare Wissensdatenbank (z. B. ein Unternehmens-Wiki) ein, in der Prozesse, Anleitungen und wichtige Informationen dokumentiert sind. Das entlastet das Arbeitsgedächtnis und reduziert die Angst, etwas Falsches zu tun oder ständig nachfragen zu müssen. Dort kann auch das gesamte Wissensmanagement gesteuert werden und Prozesse und Checklisten abgelegt werden. (inkl. simplen Prozessen wie Reisekostenabrechnung, Druckeinstellungen etc.)

8. Direkte und konkrete Feedback-Kultur fördern:

Geben Sie Feedback (sowohl positives als auch konstruktives) zeitnah, spezifisch und auf das Verhalten bezogen – nicht auf die Persönlichkeit. Vermeiden Sie das verwirrende „Feedback-Sandwich“. Eine klare und wertschätzende Feedback-Kultur reduziert Unsicherheit und hilft allen, sich weiterzuentwickeln. Und bitte wirklich zeitnah!

9. Mitarbeitendengespräche (MAGs) neu denken:

Senden Sie Bewertungsbögen immer vorab zur Vorbereitung an die Mitarbeitenden. Planen Sie nach dem Gespräch bewusst Verarbeitungszeit ein und ermöglichen Sie schriftliches Feedback als Ergänzung zum Gesprochenen. Erkennen Sie „Spiky Profiles“ an, indem Sie außergewöhnliche Stärken würdigen, anstatt nur auf Entwicklungsfelder zu schauen. Stärken von Stärken, statt Schwächen auszubügeln. Geben Sie Raum für Vorschläge zur Arbeitsplatzgestaltung.

10. Reizarme Umgebungen ermöglichen:

Schaffen Sie physische und digitale Fokuszonen. Bieten Sie Noise-Cancelling-Kopfhörer an, ermöglichen Sie die individuelle Anpassung von Lichtquellen und etablieren Sie „No-Meeting-Tage“ oder Fokuszeiten im Kalender. Was für neurodivergente Menschen notwendig ist, steigert die Konzentration aller. Verbieten sie z.B. Radios auf Lautsprecher in Großraumbüros. Investieren sie in Telefonzellen.

11. Echte Flexibilität ermöglichen:

Bieten Sie, wo immer möglich, Flexibilität nicht nur beim Arbeitsort (Homeoffice), sondern auch bei der Arbeitszeit. Gleitzeit oder die Möglichkeit, die Arbeitsblöcke an die eigene Energie- und Konzentrationskurve anzupassen, ist einer der größten Hebel, um die individuelle Leistungsfähigkeit zu maximieren.

Die KPIs einer neuroinklusiven Architektur

Echte Neuroinklusion ist keine Haltung, sondern eine messbare Infrastruktur. Statt auf Buzzwords sollten sich Führung und HR auf ein klares Dashboard konzentrieren, das zeigt, ob die Architektur funktioniert.

Wir entwickeln gerade den HPI (Hirnzigartig Performance Index) – ein Instrument zur Steuerung von Neuroinklusion.

Neuroinklusion als Framwork, Neuroinklusionsframework

Fazit: Eine Performance-Architektur für 100 % der Belegschaft

Der entscheidende Wandel im Denken ist dieser: Neuroinklusion ist kein Nischenprogramm für 20 % der Belegschaft. Es ist ein Performance-Upgrade für 100 %. Es ist ein Win-Win-Win!

Zukunftsfähige Performance entsteht nicht durch Durchschnitt. Sie entsteht durch eine intelligente Architektur, die neuronale Vielfalt als größten Treiber für Innovation begreift.

Über Julie Simstich

Julie Simstich ist Arbeits- und Organisationspsychologin und die Architektin für neuroinklusive Performance. Mit ihrer Mission „Hirnzigartig“ und über einem Jahrzehnt Erfahrung in der internationalen Unternehmensberatung übersetzt sie die oft unsichtbare Welt der Neurodiversität in eine klare Business-Strategie. Sie baut die Brücke zwischen menschlichem Potenzial und messbarer unternehmerischer Leistung. Mehr erfahren Sie auf www.hirnzigartig.at.

Hirnzigartig! Professionelles Portrait einer Frau vor moderner Einrichtung und Pflanzen.

Über Julie Simstich

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