Skip to content

Hat jetzt jede*r ADHS? 10 wissenschaftliche Antworten

ADHS und Vorurteile

In einer psychologischen Praxis sitzt eine junge Frau, die sich seit Jahren mit Konzentrationsproblemen, innerer Unruhe und Selbstzweifeln quält. Sie hat ihr Studium abgebrochen, weil sie sich kaum auf den Stoff konzentrieren konnte. In der Hoffnung auf Antworten schildert sie ihrer Psychologin ihren Verdacht: ADHS. Doch die Antwort überrascht sie. „ADHS ist eher selten“, erklärt die Fachkraft. „Ihre Schwierigkeiten haben wahrscheinlich andere Ursachen.“

Diese Szene steht stellvertretend für viele Erwachsene, die trotz erheblicher Symptome keine Diagnose erhalten. Während ADHS bei Kindern längst anerkannt ist, wird es bei Erwachsenen noch immer unterschätzt oder anderen Ursachen zugeschrieben (Askri et al., 2023).

Was ist ADHS?

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die durch eine gestörte Dopaminregulation gekennzeichnet ist. Das führt zu:
✅ Konzentrationsproblemen
✅ Erhöhter Impulsivität
✅ Teilweise starker Hyperaktivität
✅ Emotionale Dysregulation und Probleme mit Zeitmanagement

ADHS ist hochgradig erblich: Oft betrifft es mehrere Generationen innerhalb einer Familie (Hutt Vater et al., 2024). Wir sprechen hier von einer Erblichkeit von 80% – so viel wie die Körpergröße.

Historische Entwicklung der ADHS-Diagnose

Der Begriff „ADHS“ existiert erst seit wenigen Jahrzehnten, doch ähnliche Symptome wurden schon früher beschrieben:

  • 1902: Der britische Kinderarzt George Still beschreibt Kinder mit „mangelnder moralischer Kontrolle“ – heute wissen wir, dass er ADHS meinte.
  • 1968: Die Diagnose „Hyperkinetische Störung“ erscheint erstmals im DSM (Diagnosemanual für psychische Störungen).
  • 1980: ADHS wird als offizielle Diagnose anerkannt.
  • 1990er-Jahre: Erste große Studien zur Neurobiologie von ADHS zeigen, dass es sich nicht um Erziehungsprobleme, sondern um eine vererbbare neurologische Störung handelt.

Heute wissen wir: ADHS ist keine neue „Modeerscheinung“, sondern ein gut erforschtes Krankheitsbild.


Warum bekommen immer mehr Menschen eine ADHS-Diagnose?

Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Laut dem US Center for Disease Control and Prevention (CDC) ist die ADHS-Rate bei Kindern bis 2022 auf 11,4 % gestiegen. In Schweden erhalten inzwischen 10,5 % der Jungen und 6 % der Mädchen diese Diagnose. Aber warum?

Anstieg ADHS Diagnosen - Gründe - hirnzigartig

1. Bessere Diagnostik

Früher wurde ADHS oft nur bei stark hyperaktiven Jungen erkannt. Heute weiß man: Auch Mädchen und Erwachsene haben ADHS – oft in einer stilleren, unauffälligen Form (Todzia, 2024).

2. mehrere Diagnosen bei einer Person

Früher gingen Ärzte oft davon aus, dass eine Person nur eine einzige Hauptdiagnose haben kann. Autismus und ADHS galten beispielsweise lange als unvereinbar. Heute weiß man, dass viele psychische und neurologische Erkrankungen gemeinsam auftreten können. Daher werden mittlerweile mehrere Diagnosen gestellt, wenn sie für die Beschreibung der Symptome und Herausforderungen einer Person notwendig sind. Das führt dazu, dass mehr Menschen eine ADHS-Diagnose erhalten, da sie früher möglicherweise „hinter“ einer anderen Diagnose verborgen geblieben wäre.

3. Mehr Wissen und Bewusstsein bei Fachleuten

Eine neue Generation von Spezialistinnen und Spezialisten ist in jenen Institutionen tätig, die mit ADHS befasst sind. Sie verfügen über ein umfassenderes Wissen, wodurch die Störung heute früher und präziser erkannt wird. Besonders lange vernachlässigte Gruppen wie Mädchen, Frauen und Erwachsene rücken zunehmend in den Fokus der Diagnostik (Bölte, 2024).

4. Weniger Stigmatisierung

ADHS galt lange als eine problematische oder gar erfundene Diagnose. Doch durch zunehmende wissenschaftliche Erkenntnisse und bessere Aufklärung ist das Stigma rund um ADHS gesunken. Das hat zwei wichtige Folgen:

Betroffene akzeptieren ihre Diagnose eher und holen sich gezielt Unterstützung. (Rzeska et al., 2024).
Ärzte und Psychologen zögern weniger, ADHS zu diagnostizieren.

Für viele Menschen ist ADHS heute nicht mehr nur ein „Defizit“, sondern ein Teil ihrer neurodiversen Identität.

5. Höhere Anforderungen an kognitive Fähigkeiten

ADHS ist keine Krankheit im klassischen Sinne, sondern eine neurobiologische Variante mit besonderen Stärken und Schwächen. Eine der größten Herausforderungen für Menschen mit ADHS liegt in der Aufmerksamkeitskontrolle, Selbstorganisation und Impulskontrolle. In einer Gesellschaft, die immer schneller, digitalisierter und komplexer wird, stoßen Menschen mit Schwierigkeiten in diesen Bereichen eher an ihre Grenzen (Banaschewski et al., 2024).

6. Höhere Erwartungen an Gesundheit und Leistung

Die Erwartungen an die eigene mentale Gesundheit und Leistungsfähigkeit steigen stetig. Ein McKinsey-Report zur globalen Wellness-Industrie zeigt, dass Menschen sich heute intensiver mit ihrem Wohlbefinden auseinandersetzen als früher. Dadurch sind sie sensibler für Anzeichen von Konzentrationsproblemen und emotionaler Dysregulation – und suchen schneller nach einer Erklärung, wie etwa ADHS. (Gascon et al., 2022)

7. Veränderungen im Unterricht

Die Art, wie Kinder heute lernen, hat sich stark gewandelt. Digitalisierung, selbstgesteuertes Lernen und projektbasiertes Arbeiten bieten zwar viele Vorteile, stellen aber auch höhere Anforderungen an die Selbstorganisation. Kinder mit leichten ADHS-Symptomen, die in einem stark strukturierten Umfeld vielleicht keine Probleme hätten, fallen heute eher auf. Dadurch steigt die Zahl der Kinder, die zur diagnostischen Abklärung geschickt werden. (Hagaman & Casey, 2016)

8. Gesellschaftspolitische Initiativen

Viele Länder haben gezielte Maßnahmen ergriffen, um ADHS-Diagnosen zu erleichtern und den Zugang zu Unterstützungssystemen zu verbessern. In Schweden wurde etwa die Wartezeit für Diagnosen bewusst verkürzt. Gleichzeitig gibt es Kritik daran, dass es nicht nur um schnellere Diagnosen gehen sollte, sondern auch um eine Anpassung von Schulen und Arbeitsplätzen an die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen.

9. Diagnose als Voraussetzung für Unterstützung

In vielen Gesundheitssystemen ist eine offizielle Diagnose erforderlich, um Therapie- oder Fördermaßnahmen zu erhalten. Ohne eine Diagnose gibt es oft keine finanzielle Unterstützung für bestimmte Behandlungen. Daher suchen viele Betroffene gezielt nach einer Diagnose, um Zugang zu Hilfsangeboten zu bekommen. Gleichzeitig führen Fortschritte in der Diagnostik dazu, dass ADHS heute oft auch bei sehr geringen Symptomen festgestellt wird. Dieses Phänomen wird als „diagnostische Aufwertung“ bezeichnet – eine Diagnose wird manchmal gestellt, selbst wenn die Kriterien nur knapp erfüllt sind. (Furzer et al., 2022)

10. Bessere Versorgungssysteme

Länder wie Schweden haben es erleichtert, eine ADHS-Diagnose zu erhalten – was den Zugang zu Therapie verbessert (Di Lorenzo et al., 2023).

Zwischen-Fazit:

Das Fazit ist, dass der Anstieg der ADHS-Diagnosen auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist. Die Diagnosehäufigkeit von ADHS hat in den letzten Jahren zugenommen. Dies liegt einerseits an einer verbesserten Diagnostik und einem gesteigerten Bewusstsein für die Störung. Andererseits spielen gesellschaftliche Faktoren wie steigende Leistungsanforderungen, veränderte Bildungsstrukturen und der einfachere Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten eine Rolle. Dadurch erhalten mehr Menschen eine Diagnose – teils, weil sie tatsächlich betroffen sind, teils aufgrund eines wachsenden gesellschaftlichen Drucks zur Diagnosestellung und Behandlung.

Ob ADHS über- oder unterdiagnostiziert ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab:

Unterdiagnostiziert in bestimmten Gruppen

🔹 Frauen und Mädchen: Ihr ADHS äußert sich oft weniger durch Hyperaktivität und eher durch Unaufmerksamkeit oder emotionale Symptome, was zu selteneren Diagnosen führt. Studien zeigen, dass insbesondere Frauen und ältere Erwachsene häufig nicht erkannt werden, obwohl sie betroffen sind (Abdelnour et al., 2022).

🔹 Erwachsene: Viele Erwachsene, die in ihrer Kindheit keine Diagnose erhalten haben, kämpfen weiterhin mit den Symptomen, ohne sie richtig einordnen zu können. Historisch lag der Fokus lange Zeit auf Kindern, wodurch viele Erwachsene ohne Diagnose blieben.

Überdiagnostiziert in bestimmten Kontexten

🔹 Jüngere Schulkinder: In Ländern wie den USA erhalten jüngere Kinder in einer Jahrgangsstufe häufiger eine ADHS-Diagnose als ältere, was darauf hindeutet, dass ihre natürliche Unreife manchmal mit ADHS verwechselt wird (Furzer et al., 2022).

🔹 Weite diagnostische Kriterien und schnelle Medikation: In einigen Ländern, insbesondere den USA, gibt es Hinweise darauf, dass die Diagnose zu großzügig gestellt wird. Dort werden ADHS-Medikamente oft schnell verschrieben, auch wenn eine sorgfältige Differenzialdiagnose nicht immer erfolgt (Gascon et al., 2022).

Fazit im Zwischen-Fazit

Ob ADHS über- oder unterdiagnostiziert ist, hängt stark von Geschlecht, Alter, Land und den diagnostischen Praktiken ab. Während Frauen und Erwachsene oft übersehen werden, gibt es in manchen Regionen und Altersgruppen eine erhöhte Diagnoserate, die nicht immer eine tatsächliche Erkrankung widerspiegelt. Eine differenzierte und sorgfältige Diagnostik bleibt daher essenziell, um sowohl Fehldiagnosen als auch unerkannte Fälle zu vermeiden.


ADHS bei Erwachsenen: Warum es oft unerkannt bleibt

Früher dachte man, dass Kinder „aus ADHS herauswachsen“. Doch heute wissen wir: Zwei Drittel der betroffenen Kinder haben auch als Erwachsene noch Symptome (Tucha & Fuermaier, 2021).
Aber: Die Symptome verändern sich. Statt Hyperaktivität stehen Impulsivität, emotionale Instabilität und Konzentrationsprobleme im Vordergrund (Weibel et al., 2020).

👉 Problem: Viele Erwachsene erfahren ihre Diagnose erst spät – oft erst, wenn berufliche oder private Probleme auftreten. Und leider wird ADHS bei Erwachsenen oft mit Depressionen oder Angststörungen verwechselt (Askri et al., 2023).

ADHS bei Frauen: Ein übersehenes Thema

ADHS wird bei Frauen oft übersehen, weil:

  • Sie seltener hyperaktiv sind – ihre Symptome sind oft innere Unruhe, Tagträumerei und emotionale Sensibilität.
  • Sie als Kind früh lernen, sich anzupassen, um nicht „aufzufallen“.
  • Frauen mit ADHS häufiger Depressionen und Ängste entwickeln – was die Diagnose erschwert.

Folge: Viele Frauen erhalten erst als Erwachsene eine Diagnose – oft nach Jahren der Selbstzweifel.

Häufige Vorurteile über ADHS – und was wirklich stimmt

🚫 „ADHS ist nur eine Ausrede für Faulheit“
✔ Menschen mit ADHS müssen oft überdurchschnittlich viel leisten, um alltägliche Aufgaben zu bewältigen.

🚫 „Früher gab es das nicht“
✔ Die Symptome gab es schon immer – sie wurden nur anders interpretiert oder übersehen.

🚫 „ADHS ist nur ein Problem von Kindern“
✔ Erwachsene mit ADHS haben oft große Schwierigkeiten im Beruf oder in Beziehungen.

🚫 „Medikamente sind gefährlich und machen süchtig“
✔ Studien zeigen, dass Stimulanzien wie Ritalin eine der sichersten und wirksamsten Behandlungen sind – wenn sie ärztlich überwacht werden.

ADHS und emotionale Regulation

Menschen mit ADHS erleben Emotionen oft intensiver als neurotypische Menschen. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang häufig fällt, ist Rejection Sensitivity Dysphoria (RSD) – eine extreme Angst vor Zurückweisung.

Strategien zur besseren Emotionsregulation:
Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) hilft, negative Denkmuster zu erkennen.
Sport und Bewegung können überschüssige Energie abbauen.
Achtsamkeit und Meditation können helfen, Impulsivität zu reduzieren.

ADHS in Beziehungen und im Beruf

Beziehungen

Menschen mit ADHS neigen zu Impulsivität und intensiven Emotionen – das kann zu Missverständnissen und Konflikten führen. Gleichzeitig sind sie oft besonders empathisch und leidenschaftlich in ihren Beziehungen.

Tipps für Partnerschaften:
✔ Offene Kommunikation über ADHS.
✔ Klare Strukturen und Routinen schaffen.
✔ Konflikte nicht eskalieren lassen, sondern bewusst Pausen einlegen.

Beruf und Karriere

ADHS kann im Arbeitsleben eine Herausforderung sein, aber auch Stärken mit sich bringen. Viele Menschen mit ADHS sind kreativ, innovativ und denken „out of the box“.

Berufe, die gut zu ADHS passen:
✔ Kreative Berufe (Design, Kunst, Marketing)
✔ Berufe mit viel Abwechslung (Journalismus, Eventmanagement)
✔ Selbstständigkeit, da sie mehr Flexibilität ermöglicht


Wie wird ADHS behandelt?

Die gute Nachricht: ADHS ist behandelbar. Erfolgreiche Therapien kombinieren:

Kognitive Verhaltenstherapie: Strukturierte Methoden helfen, impulsives Verhalten und Chaos im Alltag zu reduzieren.
Medikamente (z. B. Methylphenidat/Ritalin, Amphetamin-Derivate): Sie unterstützen die Dopaminregulation – sind aber kein Allheilmittel.
Coaching & Zeitmanagement-Trainings: Besonders hilfreich für Erwachsene.


Fazit: ADHS ist eine echte Diagnose – keine Modeerscheinung

ADHS ist kein Trend und keine Erfindung.
Es ist eine der bestuntersuchten neurobiologischen Störungen.
Die steigenden Diagnoseraten liegen in der Regel nicht an Überdiagnosen – sondern an besseren Erkenntnissen.

💡 Wichtig: Menschen mit ADHS brauchen Unterstützung, keine Vorurteile. Die Wissenschaft zeigt klar: Mit der richtigen Therapie kann ADHS gut bewältigt werden.


2 Antworten zu „Hat jetzt jede*r ADHS? 10 wissenschaftliche Antworten“

  1. Avatar von Dr Martin Winkler

    Ich würde den Beitrag gerne in meinem Newsletter von ADHSSpektrum (https://steadyhq.com/de/adhsspektrum/about) bzw. meiner Skool-Community für ADHS verbreiten.

    Aufklärung ist ja nun gerade bei ADHS / Autismus-Spektrum immer noch notwendig

    1. Avatar von admin

      Sehr gerne – ich glaube da ziehen wir zu 100% an einem Strang!

Hat jetzt jede*r ADHS? 10 wissenschaftliche Antworten

ADHS und Vorurteile

In einer psychologischen Praxis sitzt eine junge Frau, die sich seit Jahren mit Konzentrationsproblemen, innerer Unruhe und Selbstzweifeln quält. Sie hat ihr Studium abgebrochen, weil sie sich kaum auf den Stoff konzentrieren konnte. In der Hoffnung auf Antworten schildert sie ihrer Psychologin ihren Verdacht: ADHS. Doch die Antwort überrascht sie. „ADHS ist eher selten“, erklärt die Fachkraft. „Ihre Schwierigkeiten haben wahrscheinlich andere Ursachen.“

Diese Szene steht stellvertretend für viele Erwachsene, die trotz erheblicher Symptome keine Diagnose erhalten. Während ADHS bei Kindern längst anerkannt ist, wird es bei Erwachsenen noch immer unterschätzt oder anderen Ursachen zugeschrieben (Askri et al., 2023).

Was ist ADHS?

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die durch eine gestörte Dopaminregulation gekennzeichnet ist. Das führt zu:
✅ Konzentrationsproblemen
✅ Erhöhter Impulsivität
✅ Teilweise starker Hyperaktivität
✅ Emotionale Dysregulation und Probleme mit Zeitmanagement

ADHS ist hochgradig erblich: Oft betrifft es mehrere Generationen innerhalb einer Familie (Hutt Vater et al., 2024). Wir sprechen hier von einer Erblichkeit von 80% – so viel wie die Körpergröße.

Historische Entwicklung der ADHS-Diagnose

Der Begriff „ADHS“ existiert erst seit wenigen Jahrzehnten, doch ähnliche Symptome wurden schon früher beschrieben:

  • 1902: Der britische Kinderarzt George Still beschreibt Kinder mit „mangelnder moralischer Kontrolle“ – heute wissen wir, dass er ADHS meinte.
  • 1968: Die Diagnose „Hyperkinetische Störung“ erscheint erstmals im DSM (Diagnosemanual für psychische Störungen).
  • 1980: ADHS wird als offizielle Diagnose anerkannt.
  • 1990er-Jahre: Erste große Studien zur Neurobiologie von ADHS zeigen, dass es sich nicht um Erziehungsprobleme, sondern um eine vererbbare neurologische Störung handelt.

Heute wissen wir: ADHS ist keine neue „Modeerscheinung“, sondern ein gut erforschtes Krankheitsbild.


Warum bekommen immer mehr Menschen eine ADHS-Diagnose?

Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Laut dem US Center for Disease Control and Prevention (CDC) ist die ADHS-Rate bei Kindern bis 2022 auf 11,4 % gestiegen. In Schweden erhalten inzwischen 10,5 % der Jungen und 6 % der Mädchen diese Diagnose. Aber warum?

Anstieg ADHS Diagnosen - Gründe - hirnzigartig

1. Bessere Diagnostik

Früher wurde ADHS oft nur bei stark hyperaktiven Jungen erkannt. Heute weiß man: Auch Mädchen und Erwachsene haben ADHS – oft in einer stilleren, unauffälligen Form (Todzia, 2024).

2. mehrere Diagnosen bei einer Person

Früher gingen Ärzte oft davon aus, dass eine Person nur eine einzige Hauptdiagnose haben kann. Autismus und ADHS galten beispielsweise lange als unvereinbar. Heute weiß man, dass viele psychische und neurologische Erkrankungen gemeinsam auftreten können. Daher werden mittlerweile mehrere Diagnosen gestellt, wenn sie für die Beschreibung der Symptome und Herausforderungen einer Person notwendig sind. Das führt dazu, dass mehr Menschen eine ADHS-Diagnose erhalten, da sie früher möglicherweise „hinter“ einer anderen Diagnose verborgen geblieben wäre.

3. Mehr Wissen und Bewusstsein bei Fachleuten

Eine neue Generation von Spezialistinnen und Spezialisten ist in jenen Institutionen tätig, die mit ADHS befasst sind. Sie verfügen über ein umfassenderes Wissen, wodurch die Störung heute früher und präziser erkannt wird. Besonders lange vernachlässigte Gruppen wie Mädchen, Frauen und Erwachsene rücken zunehmend in den Fokus der Diagnostik (Bölte, 2024).

4. Weniger Stigmatisierung

ADHS galt lange als eine problematische oder gar erfundene Diagnose. Doch durch zunehmende wissenschaftliche Erkenntnisse und bessere Aufklärung ist das Stigma rund um ADHS gesunken. Das hat zwei wichtige Folgen:

Betroffene akzeptieren ihre Diagnose eher und holen sich gezielt Unterstützung. (Rzeska et al., 2024).
Ärzte und Psychologen zögern weniger, ADHS zu diagnostizieren.

Für viele Menschen ist ADHS heute nicht mehr nur ein „Defizit“, sondern ein Teil ihrer neurodiversen Identität.

5. Höhere Anforderungen an kognitive Fähigkeiten

ADHS ist keine Krankheit im klassischen Sinne, sondern eine neurobiologische Variante mit besonderen Stärken und Schwächen. Eine der größten Herausforderungen für Menschen mit ADHS liegt in der Aufmerksamkeitskontrolle, Selbstorganisation und Impulskontrolle. In einer Gesellschaft, die immer schneller, digitalisierter und komplexer wird, stoßen Menschen mit Schwierigkeiten in diesen Bereichen eher an ihre Grenzen (Banaschewski et al., 2024).

6. Höhere Erwartungen an Gesundheit und Leistung

Die Erwartungen an die eigene mentale Gesundheit und Leistungsfähigkeit steigen stetig. Ein McKinsey-Report zur globalen Wellness-Industrie zeigt, dass Menschen sich heute intensiver mit ihrem Wohlbefinden auseinandersetzen als früher. Dadurch sind sie sensibler für Anzeichen von Konzentrationsproblemen und emotionaler Dysregulation – und suchen schneller nach einer Erklärung, wie etwa ADHS. (Gascon et al., 2022)

7. Veränderungen im Unterricht

Die Art, wie Kinder heute lernen, hat sich stark gewandelt. Digitalisierung, selbstgesteuertes Lernen und projektbasiertes Arbeiten bieten zwar viele Vorteile, stellen aber auch höhere Anforderungen an die Selbstorganisation. Kinder mit leichten ADHS-Symptomen, die in einem stark strukturierten Umfeld vielleicht keine Probleme hätten, fallen heute eher auf. Dadurch steigt die Zahl der Kinder, die zur diagnostischen Abklärung geschickt werden. (Hagaman & Casey, 2016)

8. Gesellschaftspolitische Initiativen

Viele Länder haben gezielte Maßnahmen ergriffen, um ADHS-Diagnosen zu erleichtern und den Zugang zu Unterstützungssystemen zu verbessern. In Schweden wurde etwa die Wartezeit für Diagnosen bewusst verkürzt. Gleichzeitig gibt es Kritik daran, dass es nicht nur um schnellere Diagnosen gehen sollte, sondern auch um eine Anpassung von Schulen und Arbeitsplätzen an die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen.

9. Diagnose als Voraussetzung für Unterstützung

In vielen Gesundheitssystemen ist eine offizielle Diagnose erforderlich, um Therapie- oder Fördermaßnahmen zu erhalten. Ohne eine Diagnose gibt es oft keine finanzielle Unterstützung für bestimmte Behandlungen. Daher suchen viele Betroffene gezielt nach einer Diagnose, um Zugang zu Hilfsangeboten zu bekommen. Gleichzeitig führen Fortschritte in der Diagnostik dazu, dass ADHS heute oft auch bei sehr geringen Symptomen festgestellt wird. Dieses Phänomen wird als „diagnostische Aufwertung“ bezeichnet – eine Diagnose wird manchmal gestellt, selbst wenn die Kriterien nur knapp erfüllt sind. (Furzer et al., 2022)

10. Bessere Versorgungssysteme

Länder wie Schweden haben es erleichtert, eine ADHS-Diagnose zu erhalten – was den Zugang zu Therapie verbessert (Di Lorenzo et al., 2023).

Zwischen-Fazit:

Das Fazit ist, dass der Anstieg der ADHS-Diagnosen auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist. Die Diagnosehäufigkeit von ADHS hat in den letzten Jahren zugenommen. Dies liegt einerseits an einer verbesserten Diagnostik und einem gesteigerten Bewusstsein für die Störung. Andererseits spielen gesellschaftliche Faktoren wie steigende Leistungsanforderungen, veränderte Bildungsstrukturen und der einfachere Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten eine Rolle. Dadurch erhalten mehr Menschen eine Diagnose – teils, weil sie tatsächlich betroffen sind, teils aufgrund eines wachsenden gesellschaftlichen Drucks zur Diagnosestellung und Behandlung.

Ob ADHS über- oder unterdiagnostiziert ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab:

Unterdiagnostiziert in bestimmten Gruppen

🔹 Frauen und Mädchen: Ihr ADHS äußert sich oft weniger durch Hyperaktivität und eher durch Unaufmerksamkeit oder emotionale Symptome, was zu selteneren Diagnosen führt. Studien zeigen, dass insbesondere Frauen und ältere Erwachsene häufig nicht erkannt werden, obwohl sie betroffen sind (Abdelnour et al., 2022).

🔹 Erwachsene: Viele Erwachsene, die in ihrer Kindheit keine Diagnose erhalten haben, kämpfen weiterhin mit den Symptomen, ohne sie richtig einordnen zu können. Historisch lag der Fokus lange Zeit auf Kindern, wodurch viele Erwachsene ohne Diagnose blieben.

Überdiagnostiziert in bestimmten Kontexten

🔹 Jüngere Schulkinder: In Ländern wie den USA erhalten jüngere Kinder in einer Jahrgangsstufe häufiger eine ADHS-Diagnose als ältere, was darauf hindeutet, dass ihre natürliche Unreife manchmal mit ADHS verwechselt wird (Furzer et al., 2022).

🔹 Weite diagnostische Kriterien und schnelle Medikation: In einigen Ländern, insbesondere den USA, gibt es Hinweise darauf, dass die Diagnose zu großzügig gestellt wird. Dort werden ADHS-Medikamente oft schnell verschrieben, auch wenn eine sorgfältige Differenzialdiagnose nicht immer erfolgt (Gascon et al., 2022).

Fazit im Zwischen-Fazit

Ob ADHS über- oder unterdiagnostiziert ist, hängt stark von Geschlecht, Alter, Land und den diagnostischen Praktiken ab. Während Frauen und Erwachsene oft übersehen werden, gibt es in manchen Regionen und Altersgruppen eine erhöhte Diagnoserate, die nicht immer eine tatsächliche Erkrankung widerspiegelt. Eine differenzierte und sorgfältige Diagnostik bleibt daher essenziell, um sowohl Fehldiagnosen als auch unerkannte Fälle zu vermeiden.


ADHS bei Erwachsenen: Warum es oft unerkannt bleibt

Früher dachte man, dass Kinder „aus ADHS herauswachsen“. Doch heute wissen wir: Zwei Drittel der betroffenen Kinder haben auch als Erwachsene noch Symptome (Tucha & Fuermaier, 2021).
Aber: Die Symptome verändern sich. Statt Hyperaktivität stehen Impulsivität, emotionale Instabilität und Konzentrationsprobleme im Vordergrund (Weibel et al., 2020).

👉 Problem: Viele Erwachsene erfahren ihre Diagnose erst spät – oft erst, wenn berufliche oder private Probleme auftreten. Und leider wird ADHS bei Erwachsenen oft mit Depressionen oder Angststörungen verwechselt (Askri et al., 2023).

ADHS bei Frauen: Ein übersehenes Thema

ADHS wird bei Frauen oft übersehen, weil:

  • Sie seltener hyperaktiv sind – ihre Symptome sind oft innere Unruhe, Tagträumerei und emotionale Sensibilität.
  • Sie als Kind früh lernen, sich anzupassen, um nicht „aufzufallen“.
  • Frauen mit ADHS häufiger Depressionen und Ängste entwickeln – was die Diagnose erschwert.

Folge: Viele Frauen erhalten erst als Erwachsene eine Diagnose – oft nach Jahren der Selbstzweifel.

Häufige Vorurteile über ADHS – und was wirklich stimmt

🚫 „ADHS ist nur eine Ausrede für Faulheit“
✔ Menschen mit ADHS müssen oft überdurchschnittlich viel leisten, um alltägliche Aufgaben zu bewältigen.

🚫 „Früher gab es das nicht“
✔ Die Symptome gab es schon immer – sie wurden nur anders interpretiert oder übersehen.

🚫 „ADHS ist nur ein Problem von Kindern“
✔ Erwachsene mit ADHS haben oft große Schwierigkeiten im Beruf oder in Beziehungen.

🚫 „Medikamente sind gefährlich und machen süchtig“
✔ Studien zeigen, dass Stimulanzien wie Ritalin eine der sichersten und wirksamsten Behandlungen sind – wenn sie ärztlich überwacht werden.

ADHS und emotionale Regulation

Menschen mit ADHS erleben Emotionen oft intensiver als neurotypische Menschen. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang häufig fällt, ist Rejection Sensitivity Dysphoria (RSD) – eine extreme Angst vor Zurückweisung.

Strategien zur besseren Emotionsregulation:
Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) hilft, negative Denkmuster zu erkennen.
Sport und Bewegung können überschüssige Energie abbauen.
Achtsamkeit und Meditation können helfen, Impulsivität zu reduzieren.

ADHS in Beziehungen und im Beruf

Beziehungen

Menschen mit ADHS neigen zu Impulsivität und intensiven Emotionen – das kann zu Missverständnissen und Konflikten führen. Gleichzeitig sind sie oft besonders empathisch und leidenschaftlich in ihren Beziehungen.

Tipps für Partnerschaften:
✔ Offene Kommunikation über ADHS.
✔ Klare Strukturen und Routinen schaffen.
✔ Konflikte nicht eskalieren lassen, sondern bewusst Pausen einlegen.

Beruf und Karriere

ADHS kann im Arbeitsleben eine Herausforderung sein, aber auch Stärken mit sich bringen. Viele Menschen mit ADHS sind kreativ, innovativ und denken „out of the box“.

Berufe, die gut zu ADHS passen:
✔ Kreative Berufe (Design, Kunst, Marketing)
✔ Berufe mit viel Abwechslung (Journalismus, Eventmanagement)
✔ Selbstständigkeit, da sie mehr Flexibilität ermöglicht


Wie wird ADHS behandelt?

Die gute Nachricht: ADHS ist behandelbar. Erfolgreiche Therapien kombinieren:

Kognitive Verhaltenstherapie: Strukturierte Methoden helfen, impulsives Verhalten und Chaos im Alltag zu reduzieren.
Medikamente (z. B. Methylphenidat/Ritalin, Amphetamin-Derivate): Sie unterstützen die Dopaminregulation – sind aber kein Allheilmittel.
Coaching & Zeitmanagement-Trainings: Besonders hilfreich für Erwachsene.


Fazit: ADHS ist eine echte Diagnose – keine Modeerscheinung

ADHS ist kein Trend und keine Erfindung.
Es ist eine der bestuntersuchten neurobiologischen Störungen.
Die steigenden Diagnoseraten liegen in der Regel nicht an Überdiagnosen – sondern an besseren Erkenntnissen.

💡 Wichtig: Menschen mit ADHS brauchen Unterstützung, keine Vorurteile. Die Wissenschaft zeigt klar: Mit der richtigen Therapie kann ADHS gut bewältigt werden.


2 Antworten zu „Hat jetzt jede*r ADHS? 10 wissenschaftliche Antworten“

  1. Avatar von Dr Martin Winkler

    Ich würde den Beitrag gerne in meinem Newsletter von ADHSSpektrum (https://steadyhq.com/de/adhsspektrum/about) bzw. meiner Skool-Community für ADHS verbreiten.

    Aufklärung ist ja nun gerade bei ADHS / Autismus-Spektrum immer noch notwendig

    1. Avatar von admin

      Sehr gerne – ich glaube da ziehen wir zu 100% an einem Strang!